Jeremia 29
Predigtreihe zum
Reformationsjubiläum
24. September 2017:
Reformation und Politik
Pastorin Brigitte Bittermann

Reformation und Politik, liebe Gemeinde,

evangelische Kirche und Politik, Kirche und Gesellschaft – das ist ein spannendes Thema. Es wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln unterschiedlich wahrgenommen und bewertet und von den Ländern der Reformation unterschiedlich gestaltet. Von: „Da haltet euch lieber raus,“ bis „Dazu müsst ihr Stellung beziehen,“ reicht die Bandbreite der Erwartungen.

Dass Kirche nicht parteipolitisch arbeitet, ist eigentlich klar. Es gibt also heute keine Empfehlungen für ihren Wahlschein. Aber Kirche äußert sich zu Themen, die das Leben, das Menschsein betreffen. Wenn es z. B. um Sterbehilfe geht oder um Gentechnik, um Gesundheitspolitik oder Umweltschutz, um den Umgang mit Armut oder um das Leben im Alter hat die evangelische Kirche eine Meinung, die durchaus auch abgerufen wird durch beratende Vertreter in entsprechenden Arbeitsgruppen in der politischen Arbeit. Die Kirche verfasst auch ihrerseits Stellungnahmen und Handreichungen. Es gibt inzwischen unzählige Denkschriften der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen.

So tritt die Kirche ein – und ich konzentriere mich jetzt auf die evangelische Kirche in Deutschland – für eine Werteorientierung, die das Wohlergehen aller im Blick hat. Und nicht, weil wir Christen überall Bescheid wüssten, sondern weil wir die oberste Maxime, die Würde des Menschen, als absolut schützenswert halten und weil wir der Botschaft Jesu folgend eine Verantwortung tragen für ein Leben, in dem der Mensch und seine Umwelt zu schützen sind.

Schade ist, dass von diesen Verlautbarungen wir normalen Kirchenleuten wenig mitbekommen. Sie noch weniger als ich. Manchmal stoßen wir auf Zeitungsartikel oder auf Talkshows, oder man muss sich selbst aktiv auf die Suche begeben, wenn man etwas von der Haltung der Kirche erfahren will. Das Recht zu dieser Art der Meinungsäußerung hat die Kirche über die im Grundgesetz verankerte Religions- und Meinungsfreiheit. Verbindendes Element zwischen Staat und Kirche ist dabei das Bemühen, die Würde des Menschen zu schützen.

So ist die Kirche offiziell in die Mitverantwortung gestellt, für das öffentliche Gemeinwesen Sorge zu tragen. Das gibt uns als Kirche in diesem Land, in dieser Stadt die Möglichkeit, selbstbewusst eine Dimension des Lebens wach zu halten, die nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden kann, die nicht dem Mainstream oder den Gesetzen der Wirtschaft folgt, sondern dem, was Menschen zu einem würdigen Leben brauchen. Als Christen sind wir aufgefordert, Platzhalter für einen Wertekodex zu sein, der umstritten und zunehmend schwerer zu vermitteln ist. Das ist der aktuelle Stand oder zumindest die theoretische Basis für ein Verhältnis zwischen Kirche und Politik. Aber das war nicht immer so.

Die Entwicklung dahin ist möglich geworden durch die mit der Reformation initiierte Trennung von Kirche und Staat, durch die Auflösung der engen Verwobenheit von Macht und Moral. Am Anfang dieser Entwicklung, die im 16. Jahrhundert ihren Anfang genommen hat, steht die sogenannte Zwei-Reiche-Lehre, die Martin Luther formuliert hat. Er hat sich stark gemacht für eine Befreiung des Staates aus der kirchlichen Bevormundung und für eine Beschränkung der Einflussnahme des Staates auf Glaubensdinge. Dass das damals für ihn nicht ungefährlich war, wissen wir. Geistliches und weltliches Regiment verstand er als von Gott eingesetzt und gleichberechtigt nebeneinander stehend.

So wurde die Kirche frei davon, politische Macht zu übernehmen. Sie hatte aber die Aufgabe, den Staat an Gottes Gebote zu erinnern und durfte bei Fehlverhalten nicht schweigen. Durch diese Zwei-Reiche-Lehre, die ich hier nur im Grundsatz angedeutet habe, konnte sich eine staatliche Gerichtsbarkeit entwickeln, Toleranz als Staatsprinzip wurde denkbar, Religionsfreiheit wurde möglich und Pluralität war erlaubt. Diese, mit der Reformation gesetzte, Möglichkeit der Vielfalt setzte eine Lerngeschichte frei, die Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion verstand zu nutzen, um frei zu werden im Denken und Glauben.

So ist die Kirche frei geworden dazu, sich auf die biblische Botschaft zu konzentrieren und sie konstruktiv im Gegenüber zur weltlichen Macht ins Gespräch zu bringen. Und so können wir als Christen Fürsprecher sein für alle, die durch staatliche Entscheidungen an den Rand gedrängt werden. Wir nehmen dabei Bezug auf die Befreiungsgeschichte des Alten Testaments und auf die Botschaft Jesu, in deren Zentrum der Mensch steht – und sein Bedürfnis in Würde zu leben.

Die Frage, die sich mir zurzeit stellt, ist, ob wir als Kirche unsere Verantwortung noch ernst nehmen – als kritisches Gegenüber zur staatlichen Macht und als Fürsprecher für Menschen am Rand.

Was wir als Kirche, als Christen kaum beeinflussen können, ist die Haltung des Staates, der Gesellschaft uns gegenüber; was wir aber beeinflussen können und woran wir arbeiten müssen, ist unser eigenes Selbstverständnis. Dazu möchte ich ein paar selbstkritische Fragen stellen:

– Beugen wir uns nicht viel zu oft dem Diktat der Ausgewogenheit und machen aus kritischen biblischen Texten seichte Wohlfühlgeschichten?

– Was taugen eigentlich Pastoren und Pastorinnen mit Versorgungsanspruch?

– Wo stellen wir uns als Kirche gegen die Todesmächte dieser Welt und riskieren unsere Sicherheit? Denkschriften und Talkshows tun nicht weh.

– Mit der Bergpredigt kann man wahrscheinlich keine Stadt regieren, aber trauen wir der Vision, die in ihr steckt? Lockt sie uns noch heraus aus dem ständigen: Weiter so.

Reformation und Politik – die Weichen für ein konstruktives und kritisches Miteinander von Kirche und Staat wurden vor 500 Jahren gelegt. Ob wir Christen weiterhin Gehör finden und glaubwürdig bleiben, hängt auch davon ab, ob wir es wagen, uns zu zeigen, ob wir dafür einstehen, was wir glauben und hoffen und ob wir uns fröhlich und zuversichtlich dem anvertrauen, der gesagt hat:

– Selig sind die Sanftmütigen, sie werden die Erde besitzen.

– Selig sind die Friedensstifter, sie heißen Gottes Kinder.

– Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. Sie sollen satt werden.

Amen.