Jeremia 29

Predigtreihe zum Reformationsjubiläum
8. Oktober 2017:
Reformation und Toleranz
Pastorin Brigitte Bittermann

Liebe Gemeinde,

Toleranz ist gegenwärtig ein großes Wort, ein Wort mit Inflation. Für manchen ist es eine Art Zauberwort, für die Lösung vieler Probleme; andere wenden sich ab und sagen: über den Tisch ziehen lasse ich mich nicht. Toleranz ist, so sagt es die Definition, ein Aushalten und Mittragen anderer Meinungen und Haltungen im Leben und im Glauben. Was sagen Sie dazu? Ich stelle dazu ein paar Aussagen in den Raum, um Sie damit anzuregen, sich unserem Thema etwas zu nähern, und vielleicht eine eigene Vorstellung zu entwickeln zu dem, was Sie unter Toleranz verstehen. Spüren Sie in sich hinein, welche Reaktionen in Ihnen wachgerufen werden. Müssen Sie schmunzeln, spüren Sie Ärger, stimmen Sie zu?

- Toleranz ist ein notwendiges Übel, damit gesellschaftliches Leben gelingen kann.
- Tolerant ist man nur dann, wenn man vermutet, dass der andere Recht hat.
- Toleranz ist etwas anderes als Gleichgültigkeit und auch etwas anderes als Akzeptanz.
- Toleranz ist, wenn jeder machen kann, was er will.
- Toleranz ist Schwäche
- Tolerant zu sein ist anstrengend.
- Freiwillig ist niemand tolerant.
- Toleranz ist Interesse am anderen, wechselseitige Bereicherung.

Je mehr mir etwas am Herzen liegt, je mehr ich überzeugt von etwas bin, um so schwieriger wird es mit der Toleranz. Und ich frage mich: passen Bekenntnis, also Religion – da geht es ja um eine innere Überzeugung und den Anspruch richtig zu glauben – passen also Toleranz und Religion überhaupt zusammen?

Ehrlicherweise muss man zugeben, dass Religionen, welche auch immer, von Anbeginn an nicht tolerant aufgetreten sind. Und da macht die Zeit der Reformation leider keine Ausnahme. Bei dem, was wir von Martin Luther. und auch über seine Mitreformatoren wissen, ist die Kombination der Worte Reformation und Toleranz mehr als gewagt. „Ich röche dich lieber gebraten in deinem Trotz“ schleudert Thomas Müntzer Martin Luther entgegen. „Solchen Mäulern muss man mit der Faust antworten, das ihnen das Blut aus der Nase läuft“ kontert Martin Luther – gnadenlose Vernichtungsimperative. Das Thema Toleranz gehört nicht zu den Schmuckstücken reformatorischer Kirchengeschichte. Es ist als Thema der Scham- und Schuldgeschichte der reformatorischen Kirchen zu benennen. Luthers Auftreten und Äußerungen gegenüber den Juden, Bauern und Andersdenkenden führen uns in Abgründe, die wir wahrnehmen, hier aber nicht ausbreiten müssen. Und es tröstet nicht, dass die anderen großen Reformatoren dieser Zeit, wie Zwingli und Calvin, keine deutlich andere Haltung entwickelt haben.

Die unglaubliche Intoleranz dieser Zeit setzt sich auch nach der Hochzeit der Reformation noch fort. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 gewährt nur den Anhängern der Confessio Augustana, der lutherischen Bekenntnisschriften und deren Religionsverwandten eine Art Gleichstellung. Und selbst durch den Westfälischen Frieden von 1648, nach 30-jährigem Religionskrieg, wurden nur die römisch-katholische, die evangelisch-lutherische und die evangelisch-reformierte Konfessionen kircherechtlich einander gleichgestellt. Alle anderen durften weiter verfolgt werden: Mennoniten, Hussiten, Methodisten, Baptisten. Weit und breit kein Merkmal von Toleranz.

So gesehen ist Martin Luther ein mittelalterlicher Mensch geblieben, da er sich nicht vorstellen konnte, dass unterschiedliche Glaubens- und Lebensvorstellungen nebeneinander bestehen könnten. Und so war die Reformation ein intoleranter Kampf um die Wahrheit. Es ist der Aufklärung zu verdanken, mit den Philosophen Voltaire und Moses Mendelssohn und Lessing mit seiner Ringparabel „Nathan der Weise“, dass die Gewissensfreiheit, die Martin Luther schon 1521 vor Kaiser und Reich für sich in Anspruch genommen hatte, wiederentdeckt wurde und dann für alle Menschen ohne Unterschied gelten konnte.

Erst die Weimarer Verfassung von 1919 beendet schließlich das ungleiche rechtliche Verhältnis zwischen den Kirchen. Die Gründung der ACK, der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland hatte wesentlichen Anteil an der Überwindung alter Vorbehalte zwischen den kirchlichen Gemeinschaften. Erst danach begann für Kirche und Gesellschaft eine Lerngeschichte in Sachen Toleranz, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

Inzwischen hat sich das Verständnis von Toleranz herausentwickelt aus der reinen Duldung anderer. Toleranz ist eine aktive Haltung geworden, die bereit ist, den anderen in seiner Art des Lebens, Denkens und Glaubens kennenzulernen und verstehen zu wollen. Toleranz ist nicht nur ein Hinnehmen dessen, was ohnehin nicht zu ändern ist, sie ist zu einem Bemühen um den Anderen geworden. Diese Haltung ist in keiner Religion verankert. Sie steht sozusagen über den Haltungen und Glaubensaussagen der Religionen. Man kann sagen: Toleranz ist ein eigenes Bekenntnis. Das zu verstehen und auch zu wollen verlangt bis heute viel und ist an vielen Punkten ein Abschied von Gewohntem und Liebgewordenem.

Ein solches Verständnis von Toleranz funktioniert nur, wenn ich mir über meine eigene Position im Klaren bin. Jeder Dialog der Verschiedenen ist gleichzeitig die Aufforderung, sich der eigenen Überzeugungen, des eigenen Glaubens bewusst zu werden. Toleranz bedeutet nicht, dass ich meine eigenen Überzeugungen preisgebe; es bedeutet, ohne Angst um sich selbst im Kontakt zu sein mit anderen. Oft habe ich den Eindruck, dass religiöse Intoleranz besonders dann entsteht, wenn ich in meiner eigene Glaubenstradition verunsichert bin und mich nicht bewegen kann in dem, was ich mein Eigen nenne.

So bleiben für mich die Aussagen Jesu, wie wir sie eben in der Lesung gehört haben, entscheidende Wegweisungen für meinen Glauben, an denen ich mich orientiere. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht respektieren könnte, dass für andere Menschen Mohammed Gottes Prophet ist. Das erschüttert meinen Glauben an Jesus Christus nicht und ich kann im Gespräch bleiben, ohne mich zu rechtfertigen oder mich zu verteidigen. Ich muss vor allem Gott nicht verteidigen, wenn ich respektieren kann, dass er sich etwas dabei gedacht haben wird, dass es unterschiedliche Wege gibt, in seinem Namen zu leben.

Für mich ist es vielmehr so, dass der Austausch mit Anderen, das Hinhören auf andere Erfahrungen, mir das Bewusstsein für das Eigene schärft. „Versöhnte Verschiedenheit“ ist das Ziel im ökumenischen Gespräch zwischen den christlichen Konfessionen: das Eigene lieben und leben und das Verschiedene respektieren und tolerieren. Versöhnte Verschiedenheit“ unter den Religionen und auch mit Menschen ohne Glauben. Dazu gehört es dann auch, die Verantwortung für die Grenzen der Toleranz zu übernehmen, nämlich dort, wo sie auf intolerantes Verhalten anderer trifft. Denn gleichgültig verhält sich Toleranz nicht.

Und in dem Allen bleibt Jesus für mich die Wahrheit, der Weg und das Leben. Das ist meine Basis, die ich gerne in der Gemeinschaft mit meinen Geschwistern im Glauben teile. Und am Ende kann ich es Gott überlassen, wie sich dieses Geheimnis der verschiedenen Religionen einst, nach dieser Zeit und Welt, lüften wird. Amen.