Jeremia 29

Predigtreihe zum Reformationsjubiläum
22. Oktober 2017: Reformation und Bildung
Pastor Michael Wabbel

Liebe Gemeinde,

Stellen Sie sich folgende Geschichte vor:

Ein gut situierter Manager aus Frankfurt hat sich einen langen Traum erfüllt. Nicht, dass ihm das Geld dazu fehlte – es war mehr die Zeit. Jetzt hatte er Zeit – und er machte eine ausgedehnte Safari nach Kenia in Afrika. Er ist begeistert von der Natur, belustigt von manchen Tänzen der Einheimischen – aber auf jeden Fall zufrieden.

An einem Nachmittag kommt er erschöpft aber glücklich in sein Hotelzimmer. Nach dem Duschen will er es sich noch etwas gemütlich machen. Da findet er in der Nachttisch-Schublade eine Bibel – in Englisch. Er legt sich in die Hängematte und fängt an zu blättern.

Was ihm zu Entspannung noch fehlt, das ist ein schöner Whiskey. Als ein schwarzer, freundlicher Boy diesen serviert, erlaubt dieser sich die Frage: „Verstehst du auch, was du liest?“ Ganz schon frech, denken Sie?!

Aber so ähnlich – allerdings unter anderen Vorzeichen – erzählt uns die Apostelgeschichte von der Begegnung zwischen Philippus und dem wohlhabenden Finanzminister:

Ein Mann war aufgebrochen zu einer langen Reise. Ungefähr 2000 Kilometer – und das nicht, weil er Urlaub machen will und die schöne weite Welt zu sehen wünscht. Auch nicht, weil er zuhause Mangel leiden müsste, ihm vielleicht etwas fehlt, was ihm das Leben schön macht. Er ist reich und einflussreich, er ist angesehen und mächtig. Und er reist auch zu keinem Staatsbesuch, wie es einem mächtigen Finanzminister ja gut anstünde.

Nein: Er reist nach Jerusalem, weil er etwas sucht. Er sucht nach etwas, was ihm trotz allen Reichtums, trotz all seiner Macht, trotz seines Ansehens fehlt. Er sucht etwas, was man sich nicht kaufen kann und was sich auch der mächtigste Mensch der Welt mit seiner Macht nicht beschaffen könnte.

Er will etwas über Gott erfahren.

Auf der Rückreise liest er aus dem Buch des Propheten Jesaja.

Und da begegnet ihm ein Anderer: arm, ohne großen Einfluss, ohne Macht. Und es ist auch nicht die Sehnsucht, die ihn treibt, und nicht die Suche, die ihn reizt. Ja: er kennt noch nicht einmal das Ziel seines Weges.

Aber er hat einen Auftrag und eine Aufgabe. Es muss ihm recht merkwürdig vorgekommen sein – aber er macht sich auf den Weg; auf den Weg in die Einsamkeit, auf irgendeine Straße in der Wüste.

Und dort treffen beide aufeinander: der Gott-Suchende und der von Gott Beauftragte. Es ist eine schöne Szene: Ein mächtiger Minister auf der Heimfahrt, nicht in das Studium der Akten vertieft, nicht im Gespräch mit Beamten oder Sicherheitskräften – sondern versunken in der Schrift, auf der Suche nach Sinn – für sich selbst und für sein Leben.

Der andere ist mutig genug, um den hohen Herrn anzusprechen: „Verstehst du auch, was du liest?“ Und der ist sich nicht zu fein, das Gesprächsangebot anzunehmen – trotz dieser eigentlich doch ziemlich frechen Anmache.

Die beiden lassen sich auf ein Gespräch ein – ein Gespräch, in dem wirklich Begegnung, in dem Kommunikation gelingt.

„Verstehst Du auch, was du liest?“

Für mich ist das ein Schlüsselsatz im Thema „Reformation und Bildung.“ Luther und der Reformatoren war es entscheidend wichtig, dass die Christen zu mündigen Christen werden. Und nur, wer selbst lesen gelernt hat, ist unabhängig von dem, was andere einem einreden.

Wenn damals die Kirche gesagt hat: Durch den Kauf von Ablassbriefen kannst Du selig werden – Was soll ein Christ dazu entgegnen, wenn er nicht lesen kann? Er ist darauf angewiesen, dass andere sagen, was und wie er oder sie zu glauben hat.

Für die Reformatoren war das „Lesen-Können“ der Bibel etwas Grundsätzliches. Das gehörte zu der Grundauffassung Luthers von der Lehre des Priesteramtes aller Gläubigen: Jeder Christ und jede Christin soll unter Berufung auf die Bibel nach seinen Möglichkeiten die Botschaft des Evangeliums verkünden.

Deshalb hatte der Lehrerstand für Luther eine große Anerkennung. Er sagte: „Wenn es Gott gefiele, mich meiner Aufgaben als Pastor zu entheben, gäbe es für mich auf Erden keine Aufgabe, die ich lieber erfüllen würde als diejenige eines Schulmeisters, denn nach dem Amt des Pastors gibt es kein schöneres Amt als das seine.“

Das Erste, was die Reformatoren damals machten, war, die Schulen aus der Macht der Klöster und Kirchen herauszulösen. Für Luther war dabei ein Mann – ein Freund – von überragender Bedeutung: Phillip Melanchthon. Der große Lehrer und Humanist. Zu seinen Vorlesungen kamen damals bis zu 600 Studenten, die begeistert waren von seinen Lehren – und seinen kreativen Lehrmethoden.

Auch Luther lernte erst bei ihm die griechische Sprache, um das Neue Testament übersetzen zu können. Für Melanchthon war die Bildung die wichtigste Voraussetzung, ein Mitglied der Gesellschaft zu werden. Und er setzte sich vehement für die allgemeine Schulpflicht ein – die damals unvorstellbar war.

„Bildung für alle!“ Das war die Forderung der Reformation. Vor allem auch für die Mädchen, die bisher noch keine Möglichkeit hatten, die Schule zu besuchen. Und es wurde fortan nicht mehr in Latein unterrichtet, sondern in der Volkssprache.

Das waren revolutionäre Veränderungen: Bisher wurden Mädchen in erster Linie auf ihre Rolle im Haushalt und als Mutter vorbereitet. Die arm waren, mussten arbeiten gehen: als Magd, Köchin, Wäscherin oder auf dem Feld. Und mit 14 Jahren waren die meisten Mädchen verheiratet und bekamen die ersten Kinder.

Unter dem Einfluss der Reformation und des Humanismus konnten bald auch Mädchen die Schule besuchen: In Wittenberg wurde die erste Mädchenschule 1530 eingeweiht.

„Bildung für alle!“ Das war der Anspruch der Reformation. Jedes Kind sollte – unabhängig vom sozialen Stand – Bildung erhalten. So gab es durch die Reformation innerhalb weniger Jahrzehnte einen riesigen Bildungsschub. Luther und Melanchthon waren sich einig, dass Bildung nichts Exklusives für wenige Reiche sein darf. Dazu bedarf es der besten Schulen „für Knaben und Maidlein“, schrieb Luther.

Kinder haben von Anfang an Lust am Entdecken, Verstehen und Gestalten. Deshalb brauchen Kinder die Förderung dieser Begabungen, denn – um es noch einmal mit Luther zu sagen – sie sind „jung und müßig, geschickt und lustig dazu.“ Wir würden sagen: Sie sind lernbegierig und kreativ.

Reformation und Bildung gehören zusammen. Und Bildung hat immer auch etwas Revolutionäres. Denn es setzt Kräfte in uns frei, deckt Missstände und Abhängigkeiten auf und setzt so Manches in Bewegung. Reformation ist ohne Bildung nicht denkbar.

Seit vielen Jahren setze ich mich deshalb für Bildung ein. Wegen meiner Kontakte besonders für Evangelische Schulen in Palästina. Ich habe gemerkt, wie wichtig Bildung auch für den Aufbau von Vertrauen ist – und damit auch für den Frieden.

Bildung geht über das „Nur-Lernen“ hinaus. Bildung braucht den ganzen Menschen: sein Herz, sein Gewissen, seinen Glauben und sein Vertrauen. Und Bildung ist nicht nur das, was wir in der Schule lernen oder gelernt haben, sondern auch, wenn uns die Eltern oder Großeltern uns zum Einschlafen vorgesungen haben; was uns das Leben und Lieben lehrt, was uns prägt und leitet.

Oft wird ja manches Christen immer noch unterstellt: „Nicht fragen! Nur glauben!“ Wir wissen: Jeder Fundamentalismus – ob jüdischer, christlicher, islamischer oder hinduistischer Prägung – jeder Fundamentalismus hasst nichts so sehr wie: Bildung.

Die Reformation hat uns gelehrt, selbst denken zu lernen, im Gewissen niemand anderem Untertan zu sein und sich vorschreiben zu lassen, was ich zu glauben habe.

In der Geschichte von dem Schatzmeister aus Äthiopien haben wir gesehen, wie befreiend es sein kann, wenn da jemand kommt, um wichtige Dinge des Lebens oder Glaubens zu erklären. Er hat etwas verstanden, ließ sich taufen und war glücklich.

Und er zog – was ich uns allen wünsche – er zog fröhlich seine Straße.

Amen.