Jeremia 29
Predigt über Jesaja 63,15-64,3
vom 10. Dezember 2017
Kopf hoch!
(Pastor Andreas Kern)

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! ... Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! ... Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren. (Jesaja 63,15-64,3 i.A.)

Welch eine Enttäuschung, liebe Gemeinde, welch ein Riesen-Frust spricht aus diesen Versen:

Wir erleben nichts von dem, was wir von dir, Gott, erhoffen, erwarten! Die Welt ist in Aufruhr, sie geht aus den Fugen, alles entgleist – und wo bist du? Wir merken, dass wir dabei sind, alle und alles in den Abgrund zu stürzen, und dass auch die Gutwilligen wenig ausrichten. Die Verhältnisse sind zum Verzweifeln! Ist es Fünf vor Zwölf – oder schon zu spät?

Hey, Gott, da war doch mal was, oder? Erinnere dich: Du bist doch unser Vater! „Unser Erlöser,“ so nennen wir dich – aber dein Herz ist verhärtet, wir spüren so gar nichts von deiner Barmherzigkeit.

Und du lässt auch unser Herz hart werden, verstocken, einfrieren. Wir wirtschaften und drehen hochtourig am Anschlag. Wir machen Party: Tanz auf dem Vulkan.

Wir schaffen es nicht einmal, eine Bundesregierung zu bilden nach der letzten Wahl. Auch da sind die Herzen und Hirne verstockt, eingefahrene Macht-Rituale und persönliche Ambitionen sind wichtiger als eine Einigung. Auch ein Tanz auf dem Vulkan?

Aber gibt es denn eine Lösung? Wird ein Wunder geschehen? Werden wir zur Vernunft kommen? Denken wir wirklich, wir könnten uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf unserer Selbstbezogenheit und Verbiesterung herausziehen? Oder gehen wir volles Risiko, warten wir einfach auf die Katastrophe – und genießen so lange es geht das Leben? Den Tanz auf dem Vulkan?

Und wenn der Vulkan dann ausbricht? Was da in Bali gerade die Menschen ängstigt und umtreibt, vertreibt aus ihren Dörfern und von ihren Feldern – brauchen wir das auch?

Vielleicht im übertragenen Sinn: Brauchen wir etwas, das unsere Versteinerung verflüssigt wie Lava? Brauchen wir die Glut und das Feuer, damit wir wieder Herzens-Wärme spüren füreinander – und für dich, Gott?

Gibt es eine Lösung, ein Lösen der Verhärtung – auf deiner Seite und auf unserer?

Wir rufen doch nach dir, Gott! Erlöse du uns aus unserer Verstockung, greife ein, bringe etwas in Bewegung!

Manchmal wünschen wir uns, du würdest dreinschlagen mit Über-Macht! Klar, dass wir das dann auch erleiden – aber vielleicht ist es besser, als so selbstbezogen einfach weiter zu wurschteln, wie wir das jetzt machen.

„Kopf hoch!“ – so haben wir diesen Gottesdienst genannt.

Aber die Fragen, die ich in den Raum gestellt habe, sind ja eher deprimierend. Sie erheben die Hoffnungen und Herzen doch eher nicht, den Blick lassen wir auch lieber gesenkt: schlechtes Gewissen, wenig Fähigkeit und Bereitschaft zum Umdenken und zu neuem Handeln.

„Kopf hoch!“ Aber ist das nicht einfach eine platte Durchhalte-Parole? Ja, so kann man das empfinden.

Beim genauen Hinsehen merken wir aber doch: Zu Boden zu blicken, bescheiden oder angstvoll, löst die Probleme erst recht nicht. Wer mit gesenktem Blick durchs Leben schleicht und durch die Welt, der verpasst die Chance zum neuen Blick auf die Dinge und Verhältnisse.

Und zu diesen Verhältnissen gehört doch unsere Gottes-Beziehung dazu! Unseren Gott sehen wir als unseren Schöpfer-Vater an, wir preisen ihn als unseren Erlöser. Wir vertrauen darauf, dass er die Macht hat, die Verhältnisse zu wandeln. Vielleicht nicht durch vulkanische Aktivitäten, sondern durch seinen liebenden Blick. Also liegen wir ihm in den Ohren mit den Jesaja-Worten:

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deines Erbes willen!

Also: Bringe uns zurecht, die wir blind und mit versteinerten Herzen in die Irre gehen! Schau auf uns und nimm uns wieder an! Du bist der Gott, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Aber wer sich das wünscht, wer sich Gottes wohltuendes Schauen vom Himmel herab wünscht, der muss natürlich selbst auch schauen und darf nicht mit gesenktem Blick den bohrenden Fragen ausweichen. Der muss tatsächlich den Blick heben.

Und wer sich das traut – den Kopf zu heben und hochzuschauen –: Was sieht er da?

Er sieht die Menschen, die fröhlichen und die bedrückten. Er sieht die Welt mit ihren wunderbaren und ganz schrecklichen Ecken und Zeiten. Und er entdeckt: In diese Welt kommt Gott – als Erlöser, als Erlösung.

Wer den Kopf hebt und der nahende Erlösung entgegenblickt, der findet seinen Blick gespiegelt in den Augen der Angehörigen, der lieben Freunde, der Nachbarn. Und auch in den Augen der fernen Nächsten: der komischen alten Frau, die mit ihrem fetten Hund im Haus an der Ecke wohnt; in den Augen des Managers, der sein großes Auto stets mit Schwung in den Carport fährt; in den Augen des Flüchtlings, der ab und zu auf der Straße rumhängt und raucht; des Schulkindes, das beim Nachhauseweg immer träumend in die Vorgärten guckt.

Sie alle – wir alle – brauchen die Erlösung. Brauchen das Verständnis, den liebenden Blick, die urteilsfreie Annahme. Wenn wir das mit dem kommenden Erlöser glauben, den wir durch unsere Bitten her- oder herunterholen in diese Welt, dann heben wir unseren Blick im Advent, sehen Gott entgegen – und schauen schon einmal probeweise mit seinen Augen auf die Menschen und die Welt.

Da sehen wir viel Fehlerhaftes und Schlimmes, Erlösungsbedürftiges. Aber wir sehen auch ganz viel Erwartung, Hoffnung, ganz viele offene Herzen, ganz viel Enthusiasmus für gute Bewegungen und Veränderungen. Ganz viel Ermutigendes und Erhebendes.

Lauter Möglichkeiten für Gott, die Welt zu erlösen! Lauter kleine, vielleicht manchmal verstohlene Blicke zwischen Mensch und Gott: Er guckt von oben, wir von unten.

Es sind also zwei Blickrichtungen, die wir uns wünschen und vornehmen: Gott, schaue herab! Und: Mensch, schaue hoch!

Seht auf und erhebet eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht! (Wochenspruch zum 2. Advent aus Lukas 21,28) Und so, Auge in Auge mit Gott, gehen wir ihm und kommt er uns entgegen.

Kopf hoch also – und hingeguckt!

Amen.